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München, um 1990

"Der Taschengarten"

Als im Jahr 1979 bei der Deutschen Grammophon eine Schallplatte mit dem Titel "Der Taschengarten" erschien, war das in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit: Abgesehen von einigen Aufnahmen aus der Frühzeit seiner Dirigententätigkeit war das die einzige Produktion in einem Aufnahmestudio, die Celibidache gemacht. Es war auch (bis heute) das einzige Mal, daß eine Komposition Celibidaches in der Öffentlichkeit zu hören war. Der Notentext selbst wurde nie verlegt. Ein Begleittext aber, den Celibidache zu seiner Komposion verfaßt hat, wurde auf der Plattenveröffentlichung abgedruckt. Es handelt sich dabei um eine Art programmatischer Überschriften zu den einzelnen Sätzen des Werkes und eine kurze Einleitung zu diesem. Dieser Text wird hier nun vollständig wiedergegeben:


DER TASCHENGARTEN

 

Es gibt leider viele Kinder, die keinen Garten haben. Aber sicher haben sie alle eine Schublade zuhause. Wir Kinder, die wir nicht so viel geweint haben, haben für die anderen in diesen schwarzen Rillen ein paar wahre, lustige neue und natürlich winzig kleine Geschichten versteckt.

Dieser runde Teller könnte euch eines schönen Tages, wenn ihr ihn immer in die gleiche Richtung drehen lasst, etwas finden lassen, was die Erwachsenen in ihrem Garten vergeblich gesucht haben.

Das alles kocht er mit Pünktchen, Bläschen, Noten, Kleckschen, Strichchen, Pausen, mit Lachen, mit Seufzen und vielen anderen kleinen Lauten, die man ernsten Instrumenten entlocken kann, um die Bilder, die in euren Herzen wohnen, zum Leben zu bringen. Ist das Musik? Jedenfalls nicht die, wie sie die Großen machen. Flink und schnell, hält sie trotzdem nichts von Fingersätzen, auch muss sie nicht laut sein, um zu wissen, ob sie richtig ist.

Aus Lächeln und Sonnenschein gemacht, kümmert sie sich nicht um morgen und würde frieren - selbst in der besten Gesellschaft - wenn man sie zwischen die Seiten eines Kataloges presste.

Wenn ihr's nicht weitersagt: In jedem Stück dieser Platte steckt eine verbotene Frucht, grün und sauer wie die vom Obstgarten des Nachbarn, die euch so gut schmecken und die die Ahnungslosen reifen lassen. Überlasst den Großen die Sorge, herauszufinden, was nicht schön ist an dem, was wir schön finden.


 

I. Kinder kommt rein!
Schnell, schnell - alles geht sehr schnell. Wir haben es eilig. Wir wollen nicht einer nach dem anderen reinkommen; alle auf einmal durchzugehen, vor allem, wenn die Tür eng ist, ist viel schöner. Gewiss bleibt niemand bei dieser Geschwindigkeit draußen.

II. Meister Wind lässt Tulpen singen
Hier sind Blumen, die so schön sind und auch so schön singen wie die anderen, auch wenn sie keine lateinischen Namen haben. Was den Wind angeht: Da haben wir nichts Besonderes gefunden; es ist ein Wind wie jeder andere.

III. Enterichs Predigt
Es gibt Wahrheiten, die viel gewinnen, wenn sie gesungen werden, besonders mit einer solchen wahren Stimme: Es ist eine große Sache, dass man nicht unwichtig bleibt, denn das Unwichtigbleiben ist keine große Sache.

IV. Ahornsamen schwirren Rätsel
Habt ihr's erraten? Selbst wenn es nicht richtig ist, seid ihr nicht weit weg.

V. Kein Himmelsruf mehr noch der alten Tanne
Der Himmel, Traum aller Tannen, ist zu weit weg für unsere Tanne. Sie ist so alt, dass sie seinen Ruf nicht mehr hört.
Ihr Drang nach oben vergeht. Ihr grünes Kleid wird schwarz, ihre Nadeln fallen herunter.
Wie traurig ist es, alt zu werden hier unten!

VI. Käfertanz
Tanze, tanze Käferlein,
leuchtend grün und winzig klein,
ein Schritt vor und zwei zurück,
dreh mal dich, nach vorne bück,
tanze, tanze Käferlein,
bald bist du nicht mehr allein,
denn wir tanzen mit
jeden Schritt.

VII. Fisches Nachtgesang
»Man singt selbst in der Nacht!«
»Wer ist es?«
»Es ist ein Frosch.«
»Was du nicht sagst!«
»Ein Krabbentier?«
»Warum nicht zwei?«
»Wer ist es dann?«
»Wenn's nicht 'ne Kröte ist, dann ist es halt ein Fisch.«
»Ein - Fisch, - der - singt - bei - Nacht?«
»Er singt nur in der Nacht, am Tage spielt er stumm!«

VIII. Besenhengst im wilden Ritt
Lucky Luke, der berühmte Cowboy, der sonst auf seinem Pferd »Jolly Jumper« reitet, gab uns die Ehre, heute einem wilden Galopp zuzuschauen. Dabei ritt er auf dem besten Besen unseres Stalles, dem schnellsten Vollblüter, den Arabien je hervorgebracht hat!

IX. Mein Igel, wo bist du?
Mein Gott, welch ein Unglück! Kipick ist verschwunden! Lass mich in Ruhe! Kipick, wo bist du? Hörst du mich weinen? Nein, ich will nichts anderes. Was könnt ihr schon verstehen! Ihr seid nie so klein gewesen wie ich. Mein Herz hat mich verlassen. Ein Schluchzen, größer als meine Brust, schlägt an seiner Stelle. Mein Schmerz ist so groß wie meine Liebe. Man kann sie nicht ersetzen. Wenn Großwerden heißen soll, neue Freuden zu finden, wie Ihr sagt, dann will ich gerne klein bleiben, so klein und dumm wie Kipick. Mit ihm ist meine ganze Weit, die einzige, die ich gekannt, die einzige die ich geliebt haben, verschwunden.

X. Grünes Gebet
Vater unser, der Du bist im Himmel: Was könnte ich Dir sagen, was Du nicht weißt! Wenn Du mir noch einmal verzeihst. dass ich zu Dir bete, um Dich um etwas zu bitten: Sag ihm schnell, dass ich ihm auch verzeihe. Er soll keine Angst haben zurückzukommen. Ich verspreche Dir, ihn niemals wieder allein zu lassen, und wenn der Gott der Igel es erlaubt, dann werde ich ihm sogar die Gebete, die ich vergessen habe, beibringen. Lass mich über ihn wachen, so wie Du über mich wachst! Danke!

XI. Dankgeschnatter. Aus einem Igel wurden zwei.
Seht nur! Ein Wunder!
Das kann nicht sein! Da ist Kipick!
Das ist unmöglich! Doch, doch, er ist es!
Was für eine Aufregung!
Aber aufgepasst - er ist ja nicht allein.
Bonjour, Madame!
Die Blätter flüstern: »Das ist Kipick. Grüß Gott ihr zwei!« »Sticht sie denn auch?«, fragen die Rosen und zünden ihre Lichter an. Die Blumen glühen rot, das Feuer sprüht, die Steine tanzen, der Staub muss husten, die Tränen glänzen, die Locken brennen. Das Fest geht in die Luft! Welch' eine Freude! Was für ein Sturm aus rosa Schnee! Wie lieb bist Du, mein lieber Gott! Bist Du denn alt?

XII. Es regnet in die Gießkanne
Da der Regen das Fest des Gartens ist, haben wir einen besonders schönen für heute bestellt. Die kleinen hüpfenden Tropfen laden alle zum Reigen ein. Es regnet, es gießt, es fließt. Es ist voll, überall schlürft es. Der Regen breitet seinen kühlen Mantel über alles aus.
Die feinen weichen Regenfäden machen alles nass: Neugierige Füße, zu lange Hosen, alle stolzen Schnurrbärte und allerhand andere staubige Sachen, die in einem durstigen Garten weilen können.
Und auf einmal erhebt sich aus einer Pfütze die Gießkanne.
Da sie selbst ein Regenmacher ist, will sie nichts mit einer solch' lieblosen Dusche zu tun haben. Sie reitet auf Wellen, schreit, schimpft und zischt vor Verachtung.
Aber nicht für lange, eine dicke Welle zeigt ihr mit dem weißen Handschuh den Weg zum Mutter-Tal, wo alle Spiele des Wassers enden.

XIII. Das ist alles
Das wär's, Kinder!
Passt auf, dass die Schublade trocken ist, wenn ihr sie schließt.
Lasst uns rausgehen, so schnell wie wir gekommen sind durch dieselbe Tür, wenn sie noch da ist.

Sergiu Celibidache


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