Sergiu Celibidache zur Aufführung
des Scherzos der 9.Symphonie von Beethoven
Eine absolute Seltenheit ist ein veröffentlichter Beitrag, in dem sich Celibidache dezidiert zur
Aufführungspraxis eines Werkes aus einem Konzertprogrammes äußert. Aber nicht nur deswegen ist Celibidaches Beitrag für
das Programmheft der Münchner Philharmoniker zu den Aufführungen der 9.Symphonie Beethovens im März 1989 hochinteressant.
Er geht in diesem Text sehr ausführlich auf die Problematik der
"Interpretations"-Tradition des 2.Satzes und die musikalischen
Grundlagen der Komposition dazu ein.
Zur Verdeutlichung des hier geschriebenen mag auch ein Vergleich von Aufnahmen
dieses Satzes dienen, jeweils ein kurzer Ausschnitt aus dem Übergang zum Trio, einmal mit
Herbert von Karajan (mp3) und dann mit
Sergiu Celibidache (mp3).
Beethoven hat von seinen großen Vorfahren Haydn und Mozart die unfehlbare Meisterschaft, durch sprachliche Bezeichnung die spezifische Charakteristik einer Klangbewegung so trefflich wiederzugeben, nicht geerbt und von seinen Vorbildern wenig übernommen. Die unsagbare Grazie, die in Form einer großzügigen Empfehlung den Ausleger führt und begleitet und unveränderlich zu dem Erlebnis des Nicht-anders-Könnens führt, war ihm zumindest fremd. Eine gewisse Instabilität (er hat seine Tempobezeichnungen oft geändert), ein Mangel an realistischer Vorstellung der dynamisch-kinetischen Relationen, die erst nach der Feuerprobe der ersten Aufführung sich materialisierten, Anweisungen, die die Grenze der Ausführbarkeit überschreiten (Finale der 8.Symphonie), eine nicht selten wiederkehrende Unentschlossenheit bei der Übersetzung der Polyvalenz der Sprache in die Einmaligkeit der musikalischen Entsprechung, all dies sind Hindernisse für die eindeutige Auslegung seiner musikalischen Ideenwelt.
Nicht alles aber, was er im Sturm seiner großen Impulsivität notiert hat, ist undeutlich oder nicht aufschlußreich; er wußte womöglich schon längst von der Relativität der Korrespondenz zwischen musikalischem Sinn und Sprache, sonst hätte er nicht das Metronom zur Hilfe genommen. Es gibt also Sätze, Eingebungen, Situationen, die eindeutig und in der Realisation seiner Absichten vollkommen notiert sind. Einer von diesen Glücksfällen ist das Scherzo seiner 9.Symphonie.
Es ist eine böse, tragische Ironie des Schicksals, daß gerade dieses Beispiel an absolut gehörten und unzweideutig festgelegten Bezeichnungen von seinen sogenannten Interpreten nicht verwirklicht, sondern im Gegenteil durch eine sinnlose Nacheinanderreihung von Teilen ersetzt und abserviert wurde, ein blamabler Beweis ihrer Unfähigkeit, die Form als unantastbaren Rahmen des musikalischen Geschehens zu erleben.
Beethoven hat für sein Scherzo eine einfache A-B-A-Grundform ausgedacht; nach einem Molto vivace notierten A-Teil, den er mit der Metronombezeichnung: punktierte halbe Note, also drei Viertel = 116 festlegt, folgt ein B-Teil, den er mit der Bezeichnung Presto versieht, ganze Note, also vier Viertel = 116. Nach diesem in jeder Hinsicht (thematisch, harmonisch, symphonisch, durch tempomäßigen Kontrast formbildend) neuen B-Teil folgt die wortwörtliche Wiederholung des A-Teils. Unter den neuen Charakteristiken des B-Teils ist die Zunahme der Geschwindigkeit von schnell auf schneller (Molto vivace - Presto) der wesentliche Aspekt des B-Teils. Damit aber alles im Rahmen einer wahrnehmbaren Kontinuität bleibt, gibt er mit mathematischer Sorgfalt die Metronomzahlen an, die eine zuverlässigere, der menschlichen Schwäche nähere Modalität der direkten Erfahrung der musikalischen Beziehungen zwischen zwei Tempi gewährleisten. Und diese Metronomzahlen sind für das Molto vivace (drei Viertel) und für das Presto (vier Viertel) die gleichen, d.h. 116. Das Presto ist also - was für den Zusammenhang wesentlich ist - um eine Viertelnote schneller. Dabei bleiben die Pulsschläge, d.h. das, was der Ausführende vermittelt, gleich. Die Opposition zwischen diesen zwei Bewegungen, deren Qualität und Hauptrolle die Schaffung des formtragenden Kontrastes ist, bleibt maßgebend.
Statt den Kontrast durch schnellere Tempobewegung zur gezielten Auswirkung kommen zu lassen, wie es der Komponist ein für allemal bestimmt hat, hat man eine allgemein gültige, leicht faßbare Karikatur des Mittelsatzes hineingenäht, die viel langsamer geht und auf diese Weise charakter- und beziehungslos zu dem anfänglichen A-Teil steht, den sie in der Sphäre des äußerst schnellen Presto ergänzen sollte. Mit diesem Andante buffo ma non troppo, welches das Presto ersetzen soll, hat man diese arme 9.Symphonie ohne weitere Verluste eineinhalb Jahrhunderte lang bereichert.
Die Theorie, daß Beethovens Metronom nicht gestimmt habe (A. Schering), ist ohne jede Bedeutung; wesentlich ist die Tatsache, daß neben einwandfrei notierter Steigerung zum Schnellen hin die Metronomzahl, mit der er die beiden korrespondierenden Bewegungen definiert, identisch, auf intakten oder defekten Metronomen die gleiche ist.
Daß die Musikwissenschaftler diese simpelste, in solch schwachsinniger Weise eingespielte Version durch verschiedene undichte Vorschläge rechtfertigen wollten (Beethoven habe halbe statt ganze Noten im Presto gemeint; es gibt heute keine einzige Ausgabe, die noch seine Originalbezeichnungen trägt) ist ein lebendiges, in fließenden Harzer Marmor gegossenes Monument der reinsten Dummheit, welches einen redseligen Epilog dieses stummen Dramas darstellt.
Es kann sein, daß Musikliebhaber, die etwas zahlscheu geboren sind und mit einer gewissen Sympathie den klanglichen Unterschied zwischen den sprachlichen Bezeichnungen Molto vivace und Presto wahrnehmen, diesen Unterschied ohne große semantische Anstrengung im Sinne einer Steigerung verstehen: von schnell (Molto vivace) auf noch schneller (Presto). Dieser Übergang von schnell auf noch schneller geschieht innerhalb einer Periode von acht Takten. Der Ausleger hat also acht Takte Zeit, um eine Viertelnote zu gewinnen. Das ist das Beschleunigungsmaß des zwischen Molto vivace und Presto stehenden stringendo. Kann es eine eindeutigere Form der Formulierung der testamentarischen Absichten geben?
Die endlose Reihe von Interpreten hat bis zu diesem Punkt scheinbar alles verstanden - sogar zwei Takte des Presto lassen sie noch gnädigst im gewollten Zusammenhang also im Prestotempo spielen. Im dritten Takt des verdammten Presto aber entdeckte eine damals sicherlich starke Persönlichkeit, daß der Komponist sich schrecklich geirrt haben mußte, und um in dieser Notsituation dem geliebten, in der Krise steckenden Meister zu helfen, hat man mit denselben Noten und demselben Tonsatz des Scherzo einen langsamen, gemütlichen, idyllischen Promenadengang durch den elysischen Garten der angenehmen Empfindungen komponiert mit der Hoffnung, daß die Menschen, nachdem sie Menschen sind, bald auch noch Brüder werden. Bei diesen starken Persönlichkeiten, die mächtiger als die Grundidee waren, handelte es sich durchaus um gute Architekten, die stolz und zukunftssicher das erste Haus mit dem Giebel im Keller bauen.
Wir sind selig, in dieser Zukunft leben zu dürfen; und daß dieses einmalige Modell sich ohne Probleme bis heute behauptet hat, stärkt uns in unserer Gewißheit, daß alles so ist, wie es sein soll. Die Form A-B-A mit dem viel langsameren B-Teil hat etwas bombenfestes; es kommt immer und überall phantastisch gut an. Schade, daß diese populäre, bürgerliche, leicht verdauliche Idee dem eigensinnigen Meister selbst nicht eingefallen ist. Bei robusten Motoren ist es möglich, daß Sie, nachdem Sie im dritten Gang Gas gegeben haben, im ersten Gang landen. Dieser nicht unbedingt musikalische Parallelfall kann sehr gesunde Einsichten hervorbringen - schade nur, daß der Klang keine Robustheit hat; er verschwindet, bevor die Hand merkt, daß das Hirn nicht mehr in der Lage ist, sich noch etwas zu merken.
Es ist normal, daß Ihnen als geduldigen, lieben Freunden dies alles entgangen ist; ein musikalisches Gebäude ist nicht zum Wohnen da, und solange Ihr Sitzplatz trocken bleibt, brauchen Sie nicht zu wissen, wo das Dach ist.
Daß die Fachpresse von der betäubenden Dynamik des Selbstgesprächs so besessen ist, ist auch normal, und es wäre zumindest unhöflich, sie auf Tatsachen aufmerksam zu machen, die ihr Wohlwollen noch nicht weiter gereizt haben. Ein Kritiker, ein einziger, ein Österreicher hat am Ende des letzten Jahrhunderts die Frage gestellt, warum die Dirigenten nicht das machen, was da geschrieben steht. (Aus demokratischen Gründen - er kommt in keiner einzigen Statistik vor - nennen wir seinen Namen nicht).
Wie Frieden fördernd und gerecht das Fehlen eines Strafgesetzbuches für musikalische Delikte sich auswirkt! Man kann doch nicht alle, die an einem solchen Kulturmord direkt oder ahnungslos beteiligt sind, bestrafen. Das wäre unsozial. Sozial ist das, was für viele, so viele wie möglich, Gültigkeit besitzt. Mit den anderen kann man weiter nichts anfangen.
Sergiu Celibidache
Aus dem Programmheft der Münchner Philharmoniker zu den Konzerten am 15.,16.,17. und 19.März 1989
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