Celibidache – Eine Annäherung

Erinnerungen an Celibidache -
Im Gespräch mit Peter Michael Hamel

Peter Michael Hamel

Peter Michael Hamel ist Komponist und Kompositionsprofessor an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Er war lange Jahre Schüler und Freund von Sergiu Celibidache. In einem Gespräch mit Arundev Gauri vom Oktober 2006 spricht er über seine Erinnerungen an den Dirigenten.

Herr Hamel, ich möchte als erstes wissen wie es zur Bekanntschaft mit der
Person Celibidache kam, bevor die erste tatsächliche Begegnung stattfand.

In den 1960er Jahren gab es – da war man noch nicht in dem heutigen
Fernseh-Alltag – eine Übertragung „Celibidache dirigiert in Kopenhagen
oder Stockholm“, ich glaube Ravel, La Valse. Das habe ich mit meinem
Vater zusammen gesehen auf einem kleinen schwarz-weiß Fernseher, und er hat
mit erzählt, daß, seitdem ich ein kleines Kind gewesen bin, dies mein Lehrer
werden sollte.

Wissen Sie noch wann genau das war?

1961 oder 1962.

Können Sie sich heute noch genau daran erinnern?

Ich weiß noch genau: es gab diesen kleinen Fernseher – 1961 einen
Fernseher zu haben war relativ früh – weil mein Vater als Regisseur nicht nur
fürs Theater arbeitete, sondern auch für die Fernsehabteilung des
Süd-Westfunks. Und da, auf diesem kleinen Fernseher sehe ich heute noch,
daß dieser Dirigent mit dem Popo hin- und herwackelt und seine Frackschwänze
sich hin- und herbewegten. Mich Vierzehnjährigen – oder wie alt ich war – hat
das äußerlich anscheinend beeindruckt. Was ich unbewusst dabei mitgekriegt
hab`, ob da etwas besonderes gewesen sei, das weiß ich nicht. Ich wusste nie,
warum mein Vater mich auf diesen Celibidache eingeschworen hatte.

Hat Ihr Vater den Werdegang Celibidaches noch weiterverfolgt?

Weniger, eher durch Zufall erfuhr ich später von Eva Körste, einer
Berliner Atemtherapeutin aus der Schule Middendorf, daß Celibidache ihr
größter Dirigent der Gegenwart sei. Es stellte sich heraus, daß sie als
Mädchen nach dem Krieg zu allen Celibidache-Konzerten ging. Das sei ein Genie.
Ein großer Kreis von Menschen wusste das nach dem Krieg. Und sie war bekannt
mit Heinz Tiessen, der sich – wie wenige wissen – ornitholgisch mit Vögeln
beschäftigt hat wie Messiaen. Tiessen ist ja heute sowieso kaum noch bekannt.
Es gibt eine wunderbare Hamletsuite. Selbst wenn das nicht eine große
kompositorische Musik gewesen ist, so hat dieser Heinz Tiessen doch den größten
Einfluss auf den damals 30jährigen Celibidache gehabt hinsichtlich der
Klangforschung und daß Musik nicht einfach nur herunterdirigiert werden kann.

Hatte auch Heinz Tiessen Kontakt zu den buddhistischen Kreisen in Berlin, z.B. zu Martin Steinke?

Das weiß ich nicht. Aber die Eva Körste hatte Kontakte zum
West-Berliner buddhistischen Haus der Stille und zu Martin Steinke. Vor 30
Jahren war ich öfter dort gewesen, wo Steinke gewirkt hat. Aber die Dame hatte
keinen oder nur entfernten Kontakt zu Celibidache. So war es dann eine
eigenartige Situation im Februar 1979 als Celi in München anfing und zwei
Wochen später mein Vater starb. Insofern meinen alle möglichen Leute, der Celi
sei mein Ersatzvater.

Was sagen Sie?

Nein! Er wäre mein älterer Bruder, so wie er das sagte.

Sie sind ihm demnach 1979 das erste Mal begegnet.

Richtig.

Und vorher haben Sie ihn natürlich durch seine musikalische Arbeit wahrgenommen.

Natürlich. Ich habe sogar noch Photos von ihm aus der Zeit als ich
dachte, ich würde Dirigent werden. Ich hatte mit 16 mein gesamtes Zimmer mit
Bildern von Dirigenten ausgeklebt und da hab ich auch ihn hingeklebt.

Wenn Sie sagen, sie hatten sogar solche Bildchen von Dirigenten an ihrer
Wand. Kam Celibidache als eine Art, man würde heute sagen
„Popstar“?

Nein, das Wort gab es nicht.

Oder ähnliches.

Nein, nur Intensität, Intensität. Was da tieferes ist, weiß ich
nicht. Intensität, totale Hingabe, aufgehen in der Musik, sich verlieren in der
Musik, ja![schlägt sich auf den Oberschenkel]: Sich verlieren in der Musik,
oder sich finden in der Musik. Das war das.

1979, wie waren Sie in Ihrem Leben positioniert, als Sie Celibidache begegneten?

Ich war gerade auf dem Weg zur Villa Massimo. Ich hatte die großen
Aufführungen. Ich war Münchener Musikpreisträger, Beethovenpreis. Ich war also
richtig eingeführt, war ziemlich früh erfolgreich, war 22, 23. Ich hatte die
Gruppe „Between“, hatte Schallplattenaufnahmen, Konzerte, bin rumgereist. Und
dann war eben das Entscheidende, daß ich über Celibidache hörte: „Der spinnt.
Der ist unerträglich. Der beleidigt die Leute und der wird keinen Vertrag
unterschreiben. Seid ihr wahnsinnig!“ Und dann plötzlich die Frage: „Können wir
uns in München das leisten?“ Und ich sagte: „Ja, das ist das tollste, was es
gibt.“ Ich meine, ich habe ganz extrem mitgewirkt. Und dafür sind mir heute
noch einige Leute sauer, daß er überhaupt kam. Und dann weiß ich noch: Tod und Verklärung,
Zauberflötenouvertüre und Bartoks Konzert für Orchester,
das war das erste Celikonzert mit den Münchener Philharmonikern. Es war in den
Proben total stressig und überhaupt nicht, – von wegen – daß das Orchester
mitgemacht hätte. Um Gottes Willen! Ein Zittern. Und dann das zweite Konzert.
Da war dann mein Vater gestorben. Da kam die 3. Brahms, das war Trauerarbeit.
Der Celi hat die 3. Brahms gemacht, als wenn er sie als Trauerarbeit für meines
Papas Tod dirigiert hätte.

Gehen wir auf die Begegnung selber ein.

Das kam zustande durch den Philharmoniker Cellisten und
Barytonspieler Jörg Eggebrecht und Hellmut Nicolai, den Bratscher und dadurch
daß bei den Phänomenologiekursen in Mainz, – ich weiß nicht von wem – mein im
Mai 1976 veröffentlichtes Buch „Durch Musik zum selbst“ Celi in die Hand
gegeben wurde, worüber er übrigens ganz laut geschimpft haben soll: „Dieser
Mann hat ja keine Ahnung von Musik, das sind ja nur Klänge“ oder so ähnlich.
Dabei hat er das Buch wahrscheinlich genau angeguckt, ob was stimmt oder
nicht, weil er sich darauf hin jahrelang auf mich eingelassen hat unter der
Maßgabe, ob ich vielleicht das Buch – „sein“ Buch schreiben soll.

…sein Buch? Das heißt, sein Buch über Musik oder Phänomenologie?

Sein Buch, das er nie geschrieben hat – über Phänomenologie oder über
Musik, wie er das verstanden hat. Er wollte einen Co-Autor. Zurück zu den
Begegnungen mit Celi: Dann hieß es, er probt öffentlich. Ich komme in den
Probenraum in Giesing – bevor die Philharmonie eröffnet wurde. Es ist probiert
worden die Vierte von Bruckner in Es-Dur: dieser Akkord am Anfang mit dem
Tremolo, das Es im Kontrabass und Cello, das g und b, wie die Bratschen
dann schneller tremolieren und die anderen weniger. Der Solohornist Wolfgang
Gaag wartete immer bis sein Horn anfängt nach so und so viel Takten. Der kam
überhaupt nicht dran. Nach einer Stunde war immer noch das Tremolo geübt. Viele
dachten, der Celi spinnt. Wenn Sie anders tremolieren, schnell und langsam,
bekommen Sie einen anderen Klang zustande. Plötzlich hat es in vielen höheren
Oktaven eine Resonanz gegeben. Das ist für mich noch heute ein Phänomen, als
wenn Engel singen. Es ist wirklich nicht zu glauben. Es war ein Sphärenton, den
ich jetzt physiologisch verstehe, warum es ihn wirklich gab und keine
Einbildung war und keine esoterische Projektion. Das fand ich schon bedeutend.

Das war 1979?

Später, Anfang der 1980er.

Demnach hatten Sie da schon Kontakt.

Ja, ja, aber eher nur gesprochen. „Kommen Sie mal zur Probe.
Ich habe Ihre Partitur gesehen. Das sind schöne Klänge, aber es ist keine
Musik.“ Und ich sage: „Wieso ist das keine Musik?“
„Nein“, sagt er. “ Musik ist das nicht.“ „Aber wieso?
Das hat mir noch niemand gesagt, daß das nicht Musik sei.“ „Nein,
das sind schöne Klänge. Klangerscheinungen!“ „Na ja, wie soll ich
dann wissen, was Musik ist? Dann sagen Sie mir, was Musik ist.“ „Da
müssen Sie mal in meine Vorlesungen nach Mainz kommen oder gehen Sie mal zu den
Proben.“ Darüber habe ich in dem
Interview
gesprochen, das bei Google zu finden
ist. Ganz lustig, das jetzt von 1994 wieder zu lesen. Ich wusste
gar nicht, daß das dort seit Jahren drinnen ist.

Ja, da wundert man sich, was man über sich selbst liest.

Ja. Da weiß ich auch welche Vorurteile andere
über mich haben. „Das hat er alles geschrieben“. Das hab ich nicht geschrieben,
sondern nur so nebenbei auf einer Treppe gesagt. Und dann hat es einer auf Band
aufgenommen und es ist im Internet seit Jahren.

So wie der Coca Cola-Satz.

Ja, der Coca Cola-Satz ist genau so entstanden: „Ah, Herr
Celibidache! Der Karajan macht so schöne Platten. Sie könnten doch auch so
schöne Platten machen. Das mögen alle.“ Daraufhin sagt er: „Karajan begeistert
die Massen – Coca Cola auch.“ Der Titel war dann „Karajan ist wie Coca Cola“.
Das war 1979 an einem Juni-Samstag in der AZ. Und Karl Böhm sei Mittelstreckenläufer…

… Der noch nie einen Takt Musik in seinem Leben dirigiert hat.

Ja. Was meinen Sie, was die Dirigenten untereinander viel schlimmeres
sagten. Nur, er hat es ehrlich laut gesagt. Die anderen sagten es alle unter
der Hand.

Daraufhin ist er doch kurzzeitig abgehauen.

Ja, ach! Aber zunächst vorher, bei der Bruckner Probe in Giesing: Da
haben sie Pause gehabt. Das werd` ich nie vergessen, daß es Weißbier gab und
Weißwurst. Er hatte die Weißwurst im Mund. Ich sage Celi oder Maestro, war
das jetzt die astrale Oktave, als da oben diese Töne heute klangen? Da ist ihm
die Wurscht herausgeflutscht aus dem Mund und wieder auf den Teller.
„Seht ihr, ihr spielt hier und hört es nicht. Und da kommt einer daher und hört.
Natürlich heute war es da!“

Und da hatte er Sie statt der Weißwurst gefressen.

Da hat er gemerkt, daß ich es zumindest hören kann. Und dann hat er
alle laut angeschrieen: „Ihr habt nichts gemerkt! Heute war der Engel da“, oder
„Heute war das Numinose da. In der Probe ist es passiert. Und ihr habt es
nicht gemerkt. Da kommt einer, der…“ Ich hab gar nicht gewusst, was ich da
anrichte. Die haben gelacht, die haben gedacht: „Ach, laß ihn mal reden“ und
haben es nicht so ernst genommen. Dann bin ich immer nach Mainz gefahren und
dann eben die phänomenologischen Fragen: Was ist introvert, was ist extrovert?
Wieso ist es nicht Geschmackssache, sondern warum gibt es das? Und das ist so!
Und wenn man sich das bewusst macht – da hat es schon einer als Kind gewusst,
aber nicht gewusst mit dem Kopf, sondern gemacht. Das heißt, das kann man als
Kind auch können. Es geschieht. Man kann es intuitiv alles richtig machen.
Richtig heißt, daß es so ist, worüber du dir bewusst wirst. „Bewußtsein macht
feige aus uns allen.“ Aber feige heißt bei Kleist: zögerlich. Also in dem
Moment kannst du es nicht mehr spontan bringen, musst dich aufarbeiten. Ich
habe mir dann überlegt: Woher kommt es, daß Celi andauernd etwas beweisen
will, wenn er es schon kann? Er ist mit jemandem zusammen gewesen, der nicht
wusste, was er tut, der es aber gebracht hätte.

Furtwängler.

Ja. Dadurch, daß Dr. Furtwängler – wie Celi ihn nannte – es konnte,
es gemacht hat, aber nicht sagen konnte, wieso, wollte er wissen: „Wieso ist es
so?“ Da fing es an Husserl’sch, phänomenologisch zu werden; nämlich daß man
sagt: Es gibt eine intersubjektive Betreffbarkeit. Es gibt etwas, was uns beide
betrifft; wo man nicht sagen kann: Ja, du hast einen anderen Geschmack. Ich mag
es eben schneller, ich mag es lauter, ich mag es leiser. Sondern es gibt etwas,
was intersubjektiv existiert.

Hat Celibidache mit Ihnen einmal darüber gesprochen, warum Heinz Tiessen
ihm die Phänomenologie nahegebracht hat?

Nein, davon weiß ich nichts weil ich nie so historisch nachfragte.
Das hat mich damals nicht so beschäftigt. Ich wollte die Sache selber erst mal
verstehen. Da haben andere mehr Kenntnisse. Er hat nur immer gesagt: „Du musst
mal dieses Streichquartett oder -quintett von Tiessen anschauen. Das ist gut
entwickelt.“ Ich antwortete: „Celi, was meinst du mit ‚entwickeln‘?“
„Aus dem Bestehenden weiter. Aus der jeweiligen Eins. Wir müssen eine Eins
machen.“ Das heißt: Jeder Klangeindruck reduziert sich zu einer Eins und dann
kannst du erst weiter gehen. Und wenn du von einer Eins in die andere gehst,
gehst du aus der Zeit raus. Kompositorisch hier geeignete Bedingungen schaffen,
das war der Anspruch. Die intersubjektive Betreffbarkeit: jetzt mal Weg von
Celi als einzigem Garanten. Es gibt einen Oudspieler aus dem früheren Bagdad,
Munir Bashir. Im gleichen Konzert saßen drei Leute, die nichts von einander
wussten, die sich nicht kannten, zwei waren Guntram Vesper und Ronald Steckel,
1972 in der Akademie am Hansaplatz in West-Berlin. Diese haben nach dem Konzert
das gleiche Bild gewählt, für das, was geschah: „Es war, als fiele goldener
Blütenstaub auf dich herab.“

Und Sie waren einer von Ihnen.

Ja.

Sie haben damals schon etwas erlebt, was nicht Sie weiter nicht weiter fassen konnten.

Nicht reflektieren konnte.

Und als Celibidache kam, konnten Sie sich wieder daran erinnern und…

… dachte: Sieh an! Hier war ein solches Ereignis, daß ich auch die
Zeit verloren habe. Dann hatte ich ein zweites Erlebnis. Ich fragte Celi so
salopp, wie ich mit ihm sprach. „Sag mal, Alter, wo hast Du denn das erlebt?
Das basiert doch auf einer Erfahrung.“ Ja, das sei in Venedig in irgend einem
Konzert gewesen.

Da hatte er Gabrieli gemacht.

Gabrieli, genau. Da war auch Monserat Caballe mit dabei. Nach
dem Anfang des Konzertes wusste er nichts mehr, es war alles weg, nur noch
wissend: „Der Himmel ist aufgegangen.“ „Na siehst du. Genau an so etwas
erinnere ich mich.“ . Aber: Anfang und Ende waren in einem, direkt
sinnlich. Es waren gewisse Widersprüche und nicht der Celi alleine, der mir
irgendwas sagte, sondern ganz eigene Erfahrungen, die ich nicht reflektieren,
definieren, einordnen konnte. Da kam mir plötzlich die Suche nach einem System,
eine Basis, eine Denkform, eine Verbalisierung um das einzuordnen, was man
nicht einordnen kann. Um das zu denken, was jenseits des Denkens sei.

Warum wollte Celibidache es systematisieren? Für wen? Für sich selbst oder
für die anderen? Um sich zu legitimieren vor dem Rest der Welt.

Das Wort „Legitimation“ gibt es bei ihm nicht. Diese
Denkweise hatte er nicht. Dafür war er eine viel zu starke Persönlichkeit, fast
penetrant.

Aber er war doch auch eitler Mensch.

Nein, so eitel nicht.

Nicht, wenn man auf den Bildern sieht, wie er sich kleidet, wie er sich aufmacht?

Oh nein, das ist Projektion. Es gibt kaum einen Menschen, der so
uneitel gewesen ist, wie Celibidache es war. Da bin ich Zeitzeuge.

Auch in den frühen Jahren?

Ach Gott, ja, weiß ich nicht. Diese Bilder, wo er als junger Mensch
dirigiert. Die sind aus einem Film. Da wurde er hergerichtet für einen
Kinofilm. Das war ja kein Mitschnitt eines Konzertes.

Ich kenn halt die Kritiken und Berichte aus der Berliner Zeit. Er scheint
mir schon eine Art Dandy gewesen zu sein.

Der hat sich vergessen. Ich kenn ihn ja nur als älteren Mann. Da war
doch dieser Jan Schmidt-Garré. Der Vater war übrigens Alban Berg-Schüler.
Dieser Jan hat die Kameras hingestellt, hat vier Scheinwerfer aufgestellt und
hat gefilmt, wie Celibidache mit mir über die Partitur redet. Das hat ihn einen
Scheißdreck gekümmert. Meinen Sie, daß er jemals für ein Bild seine
Nase anders hingestellt hat oder posiert, sich selbst inszeniert? Nie! Der war
immer sich selbst. Das war ja das Faszinierende. Da prallten die Projektionen
ab. Nein, eitel nicht. Wenn man sich nicht gekümmert hat, war er nicht richtig
gekämmt. Ich bin manchmal so ein richtiger Versorger gewesen, die Haare von den
Schultern genommen, die Fliege noch hergerichtet.

Spannend, denn das gibt mir doch ein ganz anderes Bild.

Der hat sich nicht selbst stilisiert. Der war er selbst, hat sich
immer vergessen. Er war wütend, wenn etwas ungerecht lief.

Ja, gut. Das ist klar, daß das nicht mit Eitelkeit zu tun hat.

Wenn er eitel gewesen wäre, hätte er sich doch nichts verbaut. Er hat
sich die Krisen doch selber geschaffen. Dann hätte er sich diplomatisch
verhalten, weil er dann einen Effekt gehabt hätte.

Deswegen stelle ich die Frage.

Er hat es sich ja selber manchmal alles eingebrockt, z.B. mit
Presseleuten. Da ist so vieles schwierig, auch wie er mit seinen Schülern
umgegangen ist Er war sicher kein vollkommener Mensch. Aber eitel, nee. Das war
für ihn nicht wichtig. Die Außenwirkung: Das liegt eher an Herrn Neumeister,
wie er ihn fotografierte. Übrigens ein großartiger Photograph! Wichtiger ist
die Frage, die Sie stellten nach der Systematisierung. Ich glaube, daß das
phänomenologische Durchdringen nicht eine Systematisierung ist, sondern ich
glaube, Celi wollte das zurückgeben, was er bekommen hat, es weitergeben. Er
hat immer gesagt: „Ich habe Deutschland sehr viel zu verdanken. Deswegen möchte
ich den Deutschen etwas weitergeben“. Er hat uneigennützig unterrichtet. Er hat
von keinem Schüler Geld verlangt. Das brauchte er auch nicht. Er hat von
niemandem etwas verlangt. Im Gegenteil sogar noch was bezahlt, zum Teil Studien
finanziert oder unterstützt. Er hat den Grünen z.B. ein paar 100.000 Mark
gespendet. Aber zurück zum Systematisieren: Wenn du eine solche Erfahrung
machst, daß du mit dem heiligen Geist in Verbindung kommst und die Musik in
einen anderen Weltraum gelangt; in die Essenz, in das So-sein, dann versuchst
du das für dich selber klar zu machen, weil es dir selbst sehr lang ein Rätsel
bleibt. Ich glaube, dem Furtwängler war es ein Leben lang ein Rätsel. Der
wusste gar nicht, was er machte. Ich habe kürzlich einen Aufsatz von
Furtwängler gelesen. Man weiß nicht bei solchen Aufsätzen, ob er wirklich
geschrieben hat, aber er hat es redigiert. Der konnte gar nicht schreiben, der
wollte sich ja gar nicht abstrakt ausdrücken! Und das war natürlich die
Herausforderung für den jüngeren Celi. Außerdem hat er Mathematik studiert. Der
hat einen „brain“ gehabt. Er hat sich mit den letzten Dingen der Kosmologie und
der physikalischen Bewandnisse der Welt, mit den feinsten Dingen, befasst.
Solche Bücher hat er studiert. Denn er war eben nicht einer, der die Musik nur
intuitiv machte. Er wollte das durchdringen – im Kopf; reflektieren und es
zusammenbringen.

Wenn ich als Außenstehender über ihn lese sowohl in Kritiken als auch in
Interviews, dann kommt es mir vor, als ob er in einem riesigen Spannungsfeld
gelebt hat zwischen der Emotionalität, dem erlebten Bewußtsein und der
Rationalität, in der er aufgewachsen ist. Seine Studienfelder waren die
westliche Philosopie, die Mathematik, die Musikwissenschaft, die er als Fächer
hinzugenommen hat. Wenn ich die frühe Phänomenologie als Wissenschaft richtig
verstehe, ist es eine, die versucht, die Erlebniswelt in ein System zu bringen.
Dann scheint es mir, als ob es gerade deswegen die einzige mögliche Weise war,
wie er sich hätte artikulieren können. Auch dort, wo er sagt: Was ich tue und
was wir hier erleben, kann ich im Grunde mit Worten nicht sagen. Aber es gibt
da etwas, was uns vielleicht näher als alles andere bringt. Verstehe ich das
richtig?

Sicher. Phänomenologie – auch wenn er immer betonte, daß es nicht
identisch sei mit Husserl – ist sicher der Versuch, Kopf und Bauch
zusammenzubringen. Bis zum Koan, bis zum Nichtaussprechbaren, die
„Nicht-Zweiheit“ Adhvaita, Dinge, die du nicht definieren, verbalisieren
kannst, doch zu versuchen, was aus der Erlebniswelt kommt. Wenn du sagst: das
ist jenseits des Denkens. Wie willst du das dann formulieren? Viele sagten nach
meiner Sinfonie: Dem Celi machst du deine Partituren zurecht, weil er berühmt
ist. Der ist dein Vaterersatz. Das sind aber Projektionen anderer. Ich fand das
faszinierend. Ich habe ja einen anderen Versuch gehabt, Kopf und Bauch
zusammenzukriegen, um es schnell zu sagen. Das war das Integrale Bewusstsein
des Kulturphilosophen Jean Gebser. Das war ja sehr interessant daß Celi die
Gebser – Sachen alle gelesen hatte. Das war ja dann auch die Nähe, die Celi zu
mir entwickelte, das Vertrauen, das sich aufbaute. Es entstand ein Dialog.
Integratives Bewusstsein: Du musst über die mental-rationale
Bewusstseinsschicht hinaus. Es gibt ein magisches Bewusstsein, ein mythisches,
ein mental-rationales. Und dann gäbe es einen Sprung in das Integrale, wo
menschheitsgeschichtlich alle anderen Bewusstseinsstrukturen sich durchsichtig
aufheben und durchleuchten. Das kann man auch nicht mehr darstellen.
„Diaphainon, das Durchscheinende“ nennt es Gebser.

Wo es dieses Spannungsfeld nicht mehr gibt.

Ja, wo die Sehnsucht ist, das Spannungsverhältnis aufzuheben. Im
Grunde – und ich glaube, daß Sie da richtig liegen – das wäre auch mein
Eindruck, daß ein „Unter Spannung Stehen“ oder ein „im Widerspruch“ sein in
Celibidache ständig vorhanden war. Das Auflösen dieser Gegensätze war das Ziel.

Denn es ist spannend nachzuvollziehen, wie er seine eigenen
Begrifflichkeiten aufbaut und wieder außer Kraft setzt, wenn z.B. über ein Wort
wie tempo spricht. In seinem eigenen phänomenologischen Vortrag oder Interview
sagt, ein richtiges oder falsches Tempo kann es nicht geben. Entweder das Tempo
ist da als Bedingung oder es ist nicht da. Einige Jahre später in einem
Interview spricht er andauernd vom Tempo als richtig, falsch, zu schnell oder
zu langsam.

Geschwindigkeit und Tempo: das sind die auseinander zu haltenden
Begriffe. Mein Gott, da kann man immer Widersprüche finden. Entscheidend ist,
daß es hinter dem natürlichen Musizieren – nicht: der eine macht es so und der
andere macht es wieder anders – eine nicht aufzuoktroyierende dogmatische,
sondern eine erlebbare, gemeinsame Wahrheit gibt. So ist das. Das war für mich
plötzlich etwas, was ich nicht durch Celi neu gelernt habe, sondern das in mir
befindliche Spüren hat sich bestärkt. Es sind phänomenologische Betrachtungen,
daß du auf Grund der Obertonreihe nach außen gehst, wenn Du von dir weg gehst.
Ein Ton geht weg von dir oder kehrt zu dir zurück. (Singt einige Quinten von
unten nach oben, wobei die Oberquinte stärker klingt. Anschließend Beispiele
der fallenden Quinte, die er als deutliche Entspannung singt.) Das heißt, wenn
du in der Obertonreihe abwärts gehst, phrasierst du anders. (gibt noch einige
Beispiele, die er bewusst entgegen einer natürlichen Tendenz phrasiert.) Das
machst du nicht. Das weiß ein inspiriertes Kind. Nur warum es dies macht, weiß
es nicht. Sobald du über dein Tun nachdenken sollst, kriegst du die große
Panik. „Reflektieren? Das kann ich nicht. Das mache ich nur aus dem Bauch!“ Ich
kenne Schauspieler, die können es nur aus dem Instinkt heraus. Wenn die nur
einmal einen Regisseur haben, der ihnen das Nachdenken beibringt, sind die auf
der Probe so gelähmt. Das ist wie beim Improvisieren. Es entsteht etwas. Da
kannst du 600 Mal proben, bis du es wieder draufkriegst. Und das ist eben das
höchste Ziel: aus der Spontaneität des Kindseins, des Heiligengeistseins heraus
und dir die Voraussetzungen schaffst, daß es passiert, daß du es in deinem
Bewusstsein erfährst und es wiederholbar, nachvollziehbar machen kannst.

Das heißt: Ich kann die musikalische Phänomenologie sehen als Versuch, die
Voraussetzungen und Bedingungen zu untersuchen, die ich brauche um in die Musik
hineingelangen zu können.

…daß Musik entsteht. Wunderbar, ja die Voraussetzungen dafür… in
der noetischen Phase; in der Phase des bewussten Wahrnehmens, des
Reflektierens, des Nein-Sagens, des Verwerfens, um dann an den Punkt zu
kommen wie auf dem Sprungbrett: Du hast diesen Salto 100 Mal geübt. Und wenn du
es dann irgendwann mal machst, dann ist es, als ob es ganz leicht ist und von
selber passiert. Das geht mit dem Liebesakt, das geht mit allen entscheidenden
Dingen im Leben so. Es ist nur die Frage: Wie kommst du daran? Wie kannst du
mit deinem Bewusstsein die Voraussetzungen schaffen, daß du zuschauen kannst,
wie es geht – von selber, absichtslos.

Wie gelingt es Ihnen als Komponist oder als Kompositionslehrer, Maximen der
Neuen Musik mit den Maximen eines Celibidache zu verbinden?

Ich würde nicht sagen, mit den Maximen eines Celibidache, sondern mit
den Maximen der Idee, daß die Quinte unausweichlich wichtig ist.

Um nur ein Beispiel zu nennen.

Die Maximen der Neuen Musik sind Fortschritt per se. Aber ich bin ja
nicht der einzige, der mit großer Fragestellung dasteht gegenüber dem
einseitigen Fortschrittdenken und einseitigen künstlerischen Bewertung
hinsichtlich der Avanciertheit der Mittel. Also, wenn etwas unspielbar ist,
ist es schon gut? Ich bin jetzt in München mit 83 Klavierstücken als Juror
konfrontiert gewesen. Wie wurden die unspielbaren Noten gewürdigt, und ich habe
zwei harmlose Stückchen ausgewählt. Da flippten die fast aus. Das sei
substanzlos. Da hab ich gemerkt, daß ich mich in dem Moment für Musiken stark
gemacht habe, die Voraussetzungen geschafft haben, daß etwas Inneres entsteht;
nicht nur laute und schwere Klavierkaskaden. Das ist so schwer, das kann man
doch eigentlich gar nicht spielen: als wenn das eine Qualität wäre.
Gleich kommt ein Student mit seinem Streichtrio, da kratzt und ächzt es nur so.
Wenn der Höhepunkt nicht stimmt, wenn ein Loch entsteht, worauf achte ich? daß
es zu einem bestimmten Punkt hingeht und von diesem bestimmten Punkt wieder
zurückgeht. Das kannte ich schon, bevor ich Celibidache kennen lernte. Das ist
in mir schon zuvor gewesen. Das ist eigentlich in jedem Menschen. Das ist mit
Celi nur aufgeweckt oder sensibilisiert worden. Allein der Satz „Es gibt
keine Interpretation“: Ja, was soll denn das? Celibidache hat gesagt, es gibt
sie nicht, weil letztlich zwischen dem Musiker und dem Stück nichts sei. Und
wenn es so ist, gibt es nichts mehr. Das kann bei jedem geschehen, der gut
spielt und dann bist du heraus aus dem noetischen Schauen und Buchstabieren der
Töne. Es ist nur eine Frage der Definition. Dafür ein System zu finden, wie du
phrasierst, wie du musizierst, dafür könnte Phänomenologie meiner Ansicht nach
sinnvoll sein. Deswegen plädiere ich auch dafür, daß es zum Lehrfach wird,
wobei, sobald es methodisiert wird, es auch schwierig wird. Wie erhältst du
dann die Spontaneität? Jahrelang habe ich gedacht, Jazz kannst du nicht
in der Schule lernen. Dafür musst du die Platten hören. Bestimmte Dinge sind
nicht lernbar mit einem System. Der Celi hat sein Leben lang eben doch
versucht, ein System zu finden. Er ist gescheitert. Drei dicke Bücher mit
seiner Handschrift gibt es. Die werden nie veröffentlicht. Der Versuch, die
Phänomenologie anwendbar zu machen, ist schließlich nicht über ein Buch
möglich. Du kannst auch über ein Buch nicht meditieren lernen, alles
Existenzielle nicht.

Nein, es geht nicht um die Gebrauchsanweisung als Anleitung, sondern eher
darum, die Menschen auf eine bewusste Wahrnehmung aufmerksam zu machen. Das
empfände ich als ein edles Ziel, wofür die Phänomenologie ein Beitrag leisten
könnte: wachsam zu machen. Jeder muss natürlich selbst entdecken, wie er es
lernen oder lehren könnte.

Ich fange morgen früh wieder an, wenn die Studenten kommen. Vielen
ist folgendes nicht klar: Wenn ich den Finger stumm auf das c lege und es zwei
Oktaven tiefer anschlage, daß dann das obere mitschwingt. Da fängt die
Phänomenologie nämlich an: Beweise zu bringen, daß mehrere Töne sich in einem
Klang befinden. Alle musikalischen Phänomenologen haben damit angefangen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hamel.

© Arundev Gauri
 
Arundev Gauri studiert Komposition an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg.
 
Die Wiedergabe des Interviews hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung
von Arundev Gauri.